Erkenntnis und Wahrheit

Kenntnis und Erkenntnis

Immer stärker versuchen wir, uns selbst und die Welt um uns herum in Zahlen auszudrücken. Kein Wunder, denn Zahlenwerte sind oft wertvolle Informationen. Zu Verwirrung statt Erkenntnis führt diese Herangehensweise allerdings, wenn wir glauben, dadurch besonders neutral und objektiv zu sein. Und wenn wir die eigentliche Verstehensleistung aus dem Blick verlieren: die Welt zu interpretieren und Informationen in Zusammenhang zu setzen. Hierfür brauchen wir Mut und, psychologisch ausgedrückt, „Ambiguitätstoleranz“ – die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten auszuhalten.

Dennoch sind Exaktheit und Eindeutigkeit weiterhin das Versprechen und Ziel der positivistischen Moderne. Leitdisziplinen wie die Psychologie oder Wirtschaftswissenschaften konzentrieren sich stark auf Messungen und Statistiken. Was nicht in Zahlen und Formeln fassbar ist, wird häufig komplett ausgeblendet. Big Data, als eine umfassende Vermessung von Mensch und Welt, hebt diese Entwicklung auf eine neue Stufe. Die verfügbare Informationsmasse explodiert. Aber gelangen wir so zu mehr Erkenntnissen?

Die Sprache unserer Wahrheiten ist nicht objektiv

In meiner Sicht auf Erkenntnis und Wahrheit sehe ich mich vor allem durch Leszek Kolakowski und den amerikanischen Neo-Pragmatisten Richard Rorty geprägt. Diskurstheoretische Ansätze ziehe ich ebenfalls heran, um zu beschreiben, wie das gesellschaftliche Ringen um Weltbilder von Machtstrukturen bestimmt ist.

Aus dieser Perspektive heraus wird Wahrheit immer in Bezugssystemen formuliert, die nicht allgemeingültig sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass alles bloße Meinungssache ist. Die Aussage, auf meinem Tisch stehe ein Glas, kann wahr oder falsch sein. Aber die verwendeten Konzepte von ‚Tisch‘ und ‚Glas‘ sind menschengemacht und Alternativen möglich. Gleiches gilt für Konzepte von Freiheit und Psyche, von Natur und Gerechtigkeit. Selbst die Sprache der Physik ist nicht objektiv oder wahr, sondern eine Perspektive, aus der heraus zutreffende Thesen formuliert werden können.

Verstehen heißt interpretieren

Jede Erkenntnis basiert damit auf einer Interpretation der Welt und unserer Rolle in ihr. Wir stellen dann nicht einfach fest, dass etwas der Fall ist, sondern entwickeln Theorien, warum es der Fall ist – und wie das wiederum zu bewerten ist. Auf diese Weise gewinnen wir Orientierung. Daher kann es auch zum Problem werden, wenn wir zu sehr auf Big Data-Analysen und Künstliche „Intelligenzen“ setzen. Denn diese sind nur hochkomplexe Statistikmaschinen. Sie erkennen Zusammenhänge zwischen Datentypen. Doch warum hier was mit wem zusammenhängt, wird zumeist nicht ersichtlich.

So ist es für unser Erkennen entscheidend, dass wir uns der Welt nicht nur messend, quantifizierend, datafizierend nähern, sondern auch deutend, spekulativ und intuitiv. Eine solche Offenheit für verschiedene, ergänzende Weltzugänge wird nicht nur unser Verstehen von Welt bereichern, sondern auch unsere persönlichen Erfahrungen in ihr.

Gespräche und Aufsätze

  • ‚Transparenz: Zeig Dich‘, TV-Interview in Streetphilosophy (Arte), Erstausstrahlung: 30.05.2017. (LINK)
  • ‚Vertrauen oder Transparenz?‘, Konzept und Moderation der Veranstaltungsreihe Netzdialoge! Philosophie des Digitalen, Berlin, 18.04.2019. (LINK)
  • ‚Big Data als Vermessung des Selbsts – Transparenz oder Sinnverlust? ‘, Vortrag und Workshop auf Netzethische Herausforderungen im Kontext Schule (ausgerichtet von Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie und Friedrich-Ebert-Stiftung), Berlin, 26.02.2019.
  • ‚Dialektik des Digitalen‘, Keynote-Vortrag auf Get Digital Transformation Done (ausgerichtet von Poesis Consulting), Tschagguns (Österreich), 15.06.2018. (LINK)
  • ‚Pragmatismus: Sei kein Träumer‘, TV-Interview in Streetphilosophy (Arte), Erstausstrahlung: 02.05.2017. (LINK)
  • ‚Mystik‘, Kolumne in: leibniz – das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft (1/2018). (LINK)
  • ‚Philosophie des Digitalen ‘, Kamingespräch auf HEUREKA Conference 2019, Berlin, 12.06.2019.